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Rund 826.000 Erwerbstätige in Deutschland mussten 2023 trotz Job mit Bürgergeld aufstocken – der Staat zahlte dafür sieben Milliarden Euro. Die Zahl der „Aufstocker“ steigt erstmals seit Jahren wieder, obwohl der Mindestlohn zuletzt deutlich angehoben wurde. Was hinter dieser Entwicklung steckt und welche Folgen sie für Arbeitsmarkt und Sozialstaat hat, beleuchtet der folgende Pressespiegel.
826.000 „Aufstocker“: Staat zahlt sieben Milliarden Euro
Im vergangenen Jahr erhielten rund 826.000 Erwerbstätige in Deutschland zusätzlich Bürgergeld, da ihr Einkommen nicht zum Leben reichte. Die Kosten für diese sogenannten „Aufstocker“ beliefen sich auf rund sieben Milliarden Euro. Dies geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage des Linken-Abgeordneten Cem Ince hervor, wie SZ.de berichtet.
Erstmals seit 2015 ist die Zahl der Aufstocker wieder gestiegen. Damals wurde der gesetzliche Mindestlohn eingeführt, zunächst mit 8,50 Euro pro Stunde. In der Folge sank die Zahl der Aufstocker von gut 1,2 Millionen kontinuierlich auf rund 796.000 im Jahr 2023. Für 2024 weist die Statistik nun erstmals wieder nach oben. Der Mindestlohn liegt inzwischen bei 12,82 Euro. Die Mindestlohnkommission berät derzeit über mögliche Erhöhungen, während Bundeskanzler Friedrich Merz eine Anhebung auf 15 Euro im Jahr 2026 als erreichbar und wünschbar bezeichnet hat. Die Arbeitgeber halten dies jedoch für zu hoch.
„Es kann nicht sein, dass Hunderttausende trotz Arbeit auf staatliche Hilfe angewiesen sind“, sagte der Linken-Abgeordnete Ince der dpa. „Wir unterstützen damit niedrige Löhne und halten die Ausbeutung der Arbeitskraft aufrecht, anstatt in Pflege- und Kitaplätze zu investieren, die vielen Menschen den Weg aus der Teilzeitfalle ermöglichen würden.“
Die staatlichen Ausgaben für das ergänzende Bürgergeld stiegen laut Sozialministerium von 6,19 Milliarden Euro im Jahr 2023 auf 6,99 Milliarden Euro im vergangenen Jahr. Bedarfsgemeinschaften mit mindestens einem Aufstocker wurden 2024 mit insgesamt 11,61 Milliarden Euro unterstützt. Besonders häufig sind Aufstocker Minijobber: Knapp die Hälfte der erwerbstätigen Personen, die zusätzlich Bürgergeld erhalten, sind geringfügig beschäftigt. Rund zwei Drittel der Aufstocker haben einen weit unterdurchschnittlichen Lohn.
Jahr | Anzahl Aufstocker | Staatliche Ausgaben (Mrd. €) |
---|---|---|
2015 | über 1,2 Mio. | k.A. |
2023 | 796.000 | 6,19 |
2024 | 826.000 | 6,99 |
- Der Mindestlohn liegt aktuell bei 12,82 Euro.
- Bedarfsgemeinschaften mit Aufstockern wurden 2024 mit 11,61 Milliarden Euro unterstützt.
- Knapp die Hälfte der Aufstocker sind Minijobber.
- Rund zwei Drittel der Aufstocker haben einen weit unterdurchschnittlichen Lohn.
Infobox: Die Zahl der Aufstocker steigt erstmals seit Jahren wieder. Trotz Mindestlohn sind viele Erwerbstätige weiterhin auf staatliche Unterstützung angewiesen. (Quelle: SZ.de)
SNB und tiefe Zinsen – die Ursachen
Die Schweizerische Nationalbank (SNB) hat den Leitzins erneut gesenkt, sodass dieser nun wieder bei null liegt. Dies geschieht, obwohl die wirtschaftliche Lage in der Schweiz stabil ist und die Inflationsraten nahe bei null liegen. Auch die inländische Teuerung, die zuletzt die Inflation noch im positiven Bereich gehalten hatte, hat sich weitgehend verflüchtigt, wie die NZZ berichtet.
Der sehr tiefe Zins ist laut NZZ kein konjunkturelles Phänomen, sondern Ausdruck eines strukturellen Gleichgewichts in der Schweiz. Die Geldpolitik kann die Inflation steuern, indem sie den Leitzins anpasst. Mittelfristig zieht es die Geldpolitik jedoch immer wieder zum gleichgewichtigen Zins zurück. In der Schweiz liegt dieser besonders tief, was unter anderem an der sehr geringen Staatsverschuldung liegt. Die Nachfrage nach sicheren, in Schweizerfranken denominierten Anlagen ist hoch, während das Angebot begrenzt ist, da der Bund im Rahmen der Schuldenbremse nur wenige Anleihen emittiert.
„Die Schweizerische Nationalbank kann sich dieser Gravitation kaum entziehen, ohne ihre geldpolitische Strategie grundlegend zu hinterfragen – was sie derzeit nicht in Erwägung ziehen dürfte.“ (Sarah M. Lein, Professorin für Makroökonomie an der Universität Basel)
- Leitzins der SNB liegt bei null.
- Inflationsraten in der Schweiz nahe bei null.
- Geringe Staatsverschuldung sorgt für hohe Nachfrage nach sicheren Anlagen.
- SNB verfolgt ein konservatives Inflationsziel: Teuerung unter 2 Prozent, auch 0 Prozent zählt dazu.
Infobox: Die Schweiz bleibt trotz stabiler Wirtschaft und niedriger Inflation bei einem sehr niedrigen Zinsniveau. Hauptgründe sind strukturelle Faktoren und eine geringe Staatsverschuldung. (Quelle: NZZ)
Umfrage: Betriebsräte gegen Aufhebung der Regelarbeitszeit
Betriebsräte hunderter norddeutscher Industrie- und Handwerksbetriebe lehnen die Pläne der Bundesregierung zur Ausweitung der gesetzlichen Höchstarbeitszeit ab. Laut einer Umfrage der IG Metall Bezirk Küste unter 418 Betriebsratsvorsitzenden, die rund 200.000 Beschäftigte repräsentieren, seien flexible Arbeitszeiten längst gelebte Praxis. Die Bundesregierung will laut Koalitionsvertrag Maßnahmen zur Flexibilisierung und Ausschöpfung der Arbeitszeit umsetzen, etwa steuerliche Entlastungen von Überstundenzuschlägen und Anreize zur Ausweitung von Teilzeit. Auch die Möglichkeit einer wöchentlichen statt einer täglichen Höchstarbeitszeit ist geplant, wobei Standards im Arbeitsschutz und die geltenden Ruhezeitregelungen beibehalten werden sollen, wie SZ.de berichtet.
Frage | Prozent |
---|---|
Gegen Aufhebung des Acht-Stundentags | 89 % |
Gegen Streichen eines Feiertags | 98 % |
Gegen Einführung von Karenztagen | 96 % |
Flexible Arbeitszeiten sind bereits in drei Viertel der Betriebe gelebte Praxis. Nur 7 Prozent der Betriebsräte gaben an, dass flexible Arbeitszeiten in ihrem Betrieb nicht selbstverständlich seien, 17 Prozent meinten „trifft weniger zu“. Fast 80 Prozent der Betriebsräte sehen flexible Arbeitszeiten als vorteilhaft für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. In 61 Prozent der Betriebe wird bereits regelmäßig oder unregelmäßig bis zu zehn Stunden am Tag gearbeitet. Zwei Drittel der Betriebe nutzen Arbeitszeitkonten für nahezu alle Beschäftigten, 19 Prozent für viele Beschäftigte, nur fünf Prozent fast gar nicht.
„Es sind Nebelkerzen, geworfen von denen, die wesentliche Verantwortung tragen für den wirtschaftlichen Stillstand in diesem Land.“ (Daniel Friedrich, IG Metall Küste)
- 61 Prozent der Betriebe arbeiten bereits bis zu zehn Stunden am Tag.
- 30 Prozent der Mehrarbeit wird eher durch Arbeitgeber, 22 Prozent durch Beschäftigte veranlasst.
- Das Arbeitsvolumen in Deutschland ist auf einem Höchststand.
- Die durchschnittliche Arbeitszeit pro Kopf ist wegen der hohen Teilzeitquote, insbesondere bei Frauen, niedriger als in anderen Ländern.
Infobox: Die Mehrheit der norddeutschen Betriebsräte lehnt eine Aufhebung der Regelarbeitszeit ab. Flexible Arbeitszeiten sind bereits weit verbreitet. (Quelle: SZ.de)
The Big Question: Ist Amazon gut für Europas Wirtschaft?
Amazon wird häufig vorgeworfen, den Rückgang des stationären Einzelhandels in Europa mitverursacht zu haben. 2024 schloss die Modemarke Esprit 56 Geschäfte in Deutschland, Ted Baker schloss alle 46 Geschäfte in Großbritannien und Irland, und die Casino Group in Frankreich stieß 768 unrentable Filialen ab. Dennoch sieht Mariangela Marseglia, Vice President EU Stores bei Amazon, die Zukunft im Nebeneinander von E-Commerce und traditionellem Handel, wie Euronews.com berichtet.
„Kunden sind nicht nur High Street oder nur E-Commerce-Einkäufer, sie machen beides.“ (Mariangela Marseglia, Amazon)
Online-Shops wie Amazon bieten laut Marseglia die Möglichkeit, Spezialitäten oder seltene Artikel zu beschaffen, die im stationären Handel keinen Platz finden. Sie verweist auf den britischen Supermarkt Morrisons, der Lieferungen über Amazon anbietet und erfolgreich neben seinen physischen Geschäften und eigenem Online-Lieferservice koexistiert. Marseglia betont, dass die Krise der Lebenshaltungskosten das Kaufverhalten verändert hat: Die Menschen kaufen bewusster, achten mehr auf Angebote und verschieben größere Anschaffungen wie Waschmaschinen.
Amazon sieht sich als Verbündeten kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU). Über 127.000 europäische KMU florieren laut Marseglia auf Amazon. Das Unternehmen habe 41 Milliarden Euro zum BIP des europäischen Blocks beigesteuert, was etwa der gesamten Wirtschaft Lettlands oder Estlands entspricht. Marseglia sieht jedoch Herausforderungen für kleine Unternehmen in Europa, da sie mit komplizierten Gesetzen und unterschiedlichen Vorschriften konfrontiert sind.
- 2024: Esprit schließt 56 Geschäfte in Deutschland, Ted Baker 46 in Großbritannien und Irland, Casino Group 768 Filialen in Frankreich.
- Amazon hat 41 Milliarden Euro zum BIP des europäischen Blocks beigesteuert.
- Über 127.000 europäische KMU verkaufen auf Amazon.
- Deal-Events wie Prime Day oder Black Friday werden immer beliebter.
Infobox: Amazon sieht sich als Katalysator für das Wachstum europäischer KMU und betont die Koexistenz von E-Commerce und stationärem Handel. Die Herausforderungen für kleine Unternehmen in Europa bleiben jedoch bestehen. (Quelle: Euronews.com)
Wirtschaft drängt auf Lockerung der EU-Lieferketten-Richtlinie
Die deutsche Wirtschaft fordert eine Lockerung der EU-Lieferketten-Richtlinie. Unternehmen sehen sich durch die aktuellen Vorgaben mit erheblichen bürokratischen Belastungen konfrontiert. Die Richtlinie verpflichtet Unternehmen, entlang ihrer gesamten Lieferkette menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfaltspflichten zu erfüllen. Vertreter der Wirtschaft argumentieren, dass die Anforderungen in der Praxis schwer umsetzbar seien und insbesondere kleine und mittlere Unternehmen überfordern könnten, wie Presse Augsburg berichtet.
- Die EU-Lieferketten-Richtlinie verpflichtet Unternehmen zu umfassenden Sorgfaltspflichten entlang der gesamten Lieferkette.
- Wirtschaftsvertreter kritisieren die hohen bürokratischen Anforderungen.
- Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen sehen sich überfordert.
Infobox: Die Wirtschaft fordert eine praxisnähere Ausgestaltung der EU-Lieferketten-Richtlinie, um die Wettbewerbsfähigkeit nicht zu gefährden. (Quelle: Presse Augsburg)
Einschätzung der Redaktion
Die steigende Zahl der Aufstocker trotz eines erhöhten Mindestlohns ist ein deutliches Signal für strukturelle Schwächen am Arbeitsmarkt. Wenn fast die Hälfte der Betroffenen Minijobber sind und zwei Drittel weit unterdurchschnittliche Löhne erhalten, zeigt dies, dass der Mindestlohn allein nicht ausreicht, um Erwerbsarmut wirksam zu bekämpfen. Die staatlichen Ausgaben in Milliardenhöhe verdeutlichen, dass der Staat weiterhin einen erheblichen Teil der Lohnkosten subventioniert und damit indirekt niedrige Löhne in bestimmten Branchen ermöglicht. Dies birgt das Risiko, dass Unternehmen Anreize haben, Löhne niedrig zu halten, während die Allgemeinheit die Differenz trägt. Eine nachhaltige Lösung erfordert daher nicht nur eine Debatte über die Höhe des Mindestlohns, sondern auch über die Qualität und Verteilung von Arbeit, die Förderung von Vollzeitstellen und gezielte Investitionen in Bildung, Qualifizierung und Kinderbetreuung, um den Weg aus der Teilzeitfalle zu erleichtern.
- Die Entwicklung unterstreicht die Notwendigkeit umfassender arbeitsmarktpolitischer Reformen.
- Ohne strukturelle Veränderungen bleibt der Staat langfristig in der Rolle des Lohnsubventionärs.
- Die gesellschaftlichen und fiskalischen Kosten der Erwerbsarmut steigen weiter, wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden.
Quellen:
- 826.000 „Aufstocker“: Staat zahlt sieben Milliarden Euro
- SNB und tiefe Zinsen - die Ursachen
- Umfrage - Betriebsräte gegen Aufhebung der Regelarbeitszeit - Wirtschaft - SZ.de
- The Big Question: Ist Amazon gut für Europas Wirtschaft?
- Wirtschaft drängt auf Lockerung der EU-Lieferketten-Richtlinie
- Wirtschaft fordert Nachbesserung der EU-Lieferketten-Richtlinie